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Die Unschuldsvermutung in der «Causa Paul Estermann» und ihre Folgen

causasportnews, Nr. 1010/04/2023, 25. April 2023

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(causasportnews / red. / 25. April 2023) Niemand wird bestreiten wollen, dass der Fall des Springreiters Paul Estermann mehr als unappetitlich ist. Tierquälerei ist kein Kavaliersdelikt, der bald 60jährige, frühere Top-Reiter gilt seit Ende des letzten Jahres als rechtskräftig verurteilt, und soeben ist der Luzerner von der Sanktionsinstanz des Schweizerischen Verbandes für Pferdesport (SVPS) für sieben Jahre aus dem Sport verbannt worden (causasportnews, 17. April 2023; diese Sanktion ist noch nicht rechtsgültig). Mit der rechtskräftigen Verurteilung gilt der einst erfolgreiche Pferdesportler strafrechtlich und strafprozessual nicht mehr als «unschuldig». Dieser Umstand verleitet nun vor allem die Boulevardmedien zu geradezu irren Schlussfolgerungen und Darlegungen; so wird etwa der «Blick» seinem Ruf als perpetuiertem Stammtisch in dieser Angelegenheit wieder einmal gerecht. Die Zeitung hat ausgerechnet, dass Paul Estermann seit 2017, als der «Blick» die Affäre um den Springreiter aufgedeckt hat, bis 2022, als die rechtskräftige Verurteilung erfolgte, ein Preisgeld von 734’000 Franken eingeritten hat, alleine von 2017 bis 2019 sollen es mehr als 500’000 Franken gewesen sein. Das geht in den Augen der Boulevard-Journalistinnen und -Journalisten gar nicht. Dabei wird verkannt, dass Paul Estermann eben erst seit Ende 2022 rechtskräftig verurteilt ist. Für die wohl auf dem Niveau des Stammtisches argumentierende Zeitung mit den grossen Buchstaben bedeutet das ein moralisches Unding. So, wie am Stammtisch jedermann und jedefrau drauflosschwatzen und -schimpfen kann, können die Boulevardmedien publizistisch poltern, wenn des Volkes Stimme und Stimmung mitgetragen werden soll; geht es um sportliche oder im Zusammenhang mit dem Sport stehende Themen, wird das heute «Medien-Hooliganismus» genannt. Beiderorts, am Stammtisch und in den Redaktionen der Boulevardmedien, scheint das Bildungsniveau der Akteurinnen und Akteure durchwegs nicht allzu ausgeprägt zu sein. Natürlich bleibt in Anbetracht der kollektiven, medialen Empörung so völlig ausgeblendet, dass es etwa in Art. 10 Abs. 1 der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO)heisst: «Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.». Die Unschuldsvermutung ist ein tragendes Grundprinzip eines jeden rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Diese Maxime gilt natürlich für alle Delinquenten, auch wenn sie sich durch ihre Taten Abscheuliches haben zuschulde kommen lassen. So gesehen geht das Poltern des «Blick» in eine völlig falsche Richtung. Bis Ende 2022 galt Paul Estermann als unschuldig und durfte korrekterweise im Pferderennsport weiter aktiv dabei bleiben. Eine Frage bleibt dennoch, weshalb der SVPS die nun ausgefällte Sanktion (Vereinsstrafe) gegenüber dem verurteilten Springreiter nicht vorher zumindest ernsthaft ins Auge gefasst hat. In Konstellationen wie der hier vorliegenden schieben die Sanktionsbehörden von Verbänden die «heisse Sanktions-Kartoffel» gerne hin und her und lassen oft verlauten, dass über Vereinsstrafen dann befunden würde, wenn ein Strafurteil vorliege. Die Ebenen Strafrecht und Sanktionsrecht bilden dennoch voneinander unabhängige Straf- bzw. Sanktionsebenen.