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Ein irregulärer Millionenschwung?

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(causasportnews / red. / 4. September 2022) Das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest 2022 in Pratteln (BL) ist seit ein paar Tage Geschichte. Der bedeutendste Sportanlass der Schweiz, der alle drei Jahre stattfindet, wirkt nach; es handelt sich bei diesem Fest in dieser urschweizerischen Sportart «Schwingen» um den nachhaltigsten Sportevent der Schweiz. Zehntausende von Zuschauern vor Ort und Hunderttausende vor den Bildschirmen waren Zeugen, wie sich der Luzerner Wicki Joel zum Schwingerkönig 2022 krönte (für unsere Deutschen Freundinnen und Freunde im Norden und in der Schweiz: «schwingen» ist eine auf Sägemehl ausgetragene Variante des Freistilringens und hat nichts mit dem vor allem in Deutschland populäreren «swingen» zu tun). Es gab schon spektakulärere Schlussgänge als derjenige von Pratteln. Durchwegs herrschte jedoch die Meinung vor, dass der 25jährige Baumaschinenmechaniker und angehende Landwirt, der bei einer Körpergrösse von 183 Zentimetern stolze 110 Kilogramm auf die Waage bringt, ein würdiger und verdienter König in diesem Nationalsport ist.

Die Schweiz wäre jedoch nicht die Schweiz, wenn dieser Erfolg des «Bösen» aus der Innerschweiz einfach so hingenommen würde. «Joel Wickis Millionenschwung war irregulär», moserte etwa die linke Zeitung «Tages-Anzeiger» in Zürich herum; der Ausdruck «Millionenschwung» resultiert daher, weil ein Schwingerkönig mit Werbung schönes Geld generieren kann. Da sind auch die Neider rasch zur Stelle. Kein Wunder, kommen derartige Querschüsse aus diesem Lager. Immerhin ist der Schwingsport nicht nur quer durch alle Gesellschaftsschichten hindurch ein anerkannter, etablierter und beliebter helvetischer Sport, sondern er bedeutet insbesondere die Verkörperung ureigener Schweizer Traditionen, welche dem linken Lager seit jeher ein Dorn im Auge ist. Das Blatt sezierte nach dem Triumph des «Bösesten» aller «Bösen» den entscheidenden Schlussgang und ortet den Makel im entscheidenden Moment des Kampfes so: Wicki Joel hatte beide Hände an der Zwilchhose seines Schlussgang-Gegners Aeschbacher Matthias, dann lässt er diese zuerst mit der linken, dann mit der rechten Hand los und legte Aeschbacher Matthias auf den Rücken. Ein irregulärer Sieg also, weil Wicki Joel eine Reglementsbestimmung des Eidgenössischen Schwingerverbandes verletzt habe. Im technischen Reglement findet sich in der Tat der Passus: «Der schwungausführende oder der gewinnende Schwinger muss mindestens einen Griff an den Schwingerhosen oder am geschlossenen Teil des Ledergurtes des Gegners haben.». Ein irregulärer Sieg also, doch weshalb hat der Kampfrichter diese Reglementsverletzung nicht geahndet? Er hat sie schlicht übersehen und so entschieden aufgrund dessen, was er gesehen hat. In der Retrospektive wird sichtbar, dass die Reglementsverletzung marginal und auch nicht ausschlaggebend für den Sieg von Wicki Joel war. Eine Tatsachenentscheidung, wie sie im Sport immer wieder vorkommt, zufolge Verletzung einer Ordnungsvorschrift (und nicht einer Gültigkeitsvorschrift). In der Welt der Schwinger, die mehrheitlich noch in Ordnung ist, bildet diese Irregularität kein Thema. Hier ist Sport eben noch Sport, und eine Entscheidung auf dem Sportplatz ist eine hinzunehmende Entscheidung. Die in einem Teil der Medien aufgeworfene Frage, ob in diesem Nationalsport zur Aufdeckung derartiger Irregularitäten nicht ein Video Assistant Referee (VAR) als Sehhilfe für den Kampfrichter einzusetzen wäre, ist sich die unverdorbene, «gesunde» Schwinger-Community einig: Im Sport soll man auch mal fünf grad sein lassen. Logisch, dass sich auch der im Schlussgang unterlegene Aeschbacher Matthias keine Gedanken mit Blick auf solche juristischen Spitzfindigkeiten gemacht hat.

Die Angst des Rennsport-Schiedsrichters vor Fehlentscheidungen

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(causasportnews / red. / 15. Dezember 2021) Die Wogen sind nach dem WM-Finale in der Formel 1 in Abu Dhabi noch nicht geglättet; die Emotionen gehen immer noch hoch. Die Entscheidung nach einer spannenden Saison im letzten Rennen und auf den letzten Metern in den Emiraten war allerdings  spektakulärer als die Diskussionen, die nun immer noch anhalten. Eine Safety-Car-Phase ermöglichte es dem Niederländer Max Verstappen, seinen ersten WM-Titel ins Trockene zu bringen. Dank Cleverness, der neue Champion holte sich in dieser Renn-Neutralisationsphase umgehend frische Reifen, die es ermöglichten, den Rivalen um den Titel, Lewis Hamilton, zu überholen und definitiv zum Verlierer zu machen. Vor allem im «Mercedes»-Team herrschte nach der Niederlage des Titelverteidigers Heulen und Zähneknirschen, und «Mercedes»-Motorsportchef Toto Wolff wütete in seiner Rennleiter-Lounge wie ein Berserker. An sich hätte er über sich und seine Fehlstrategie in dieser Safety-Car-Phase erbost und frustriert sein müssen (Max Verstappen war und agierte einfach klüger), doch verlief alles nach dem hehren Motto: Lob der Schuldigen, Tadel der Unschuldigen.

Wie immer in solchen Momenten im Sport braucht es, um vom eigenen Versagen abzulenken , zumindest einen Schuldigen. Im Fussball ist es der Schiedsrichter, im entscheidenden Formel 1-Rennen der zu Ende gegangenen Saison fokussierte sich die Wut auf den Schiedsrichter des Rennens, den Australier Michael Masi. Diesem wurde von Mercedes-Seite vorgeworfen, bezüglich der Safety-Car-Phase und was damit zusammenhing, falsch entschieden zu haben, was adäquat kausal gewesen sei für den Coup des neuen Weltmeisters. Klar, Max Verstappen im «Red Bull» war vom Rennglück begünstigt, tat aber, im Gegensatz zu Lewis Hamilton, im richtigen Moment das Richtige. Zwar begleitet den Schiedsrichter auch im Rennsport die Angst vor Fehlentscheiden. Diese Angst ist allerdings relativiert zu betrachten in dieser technischen Sport-Disziplin, in der das Auto und nicht der Sportler an erster Stelle steht.

Dass die Titelverteidigung schief gehen könnte, konnte vor dem Saison-Finale nicht ausgeschlossen werden, schliesslich hatte Max Verstappen vor dem letzten Rennen vorgelegt und hatte während der Saison 2021 des öfteren von umstrittenen Rennentscheidungen von Michael Masi profitiert. «Mercedes» fuhr letztlich in die Schicksals-Falle. War dieses Ende einer spannenden WM-Saison also irgendwie vorauszusehen? Wohl schon, denn es ist bezeichnend, dass die beiden Teams «Red Bull» und «Mercedes» mit einer Armada von Anwälten zum letzten Saison-Rennen in Abu Dhabi einfuhren. Die Advokaten-Zunft wurde dann auf «Mercedes»-Seite nach dem Herzschlag-Finale auch aktiv. Was für das deutsche Werk auf der Rennstrecke verloren ging, sollte am grünen Tisch zurückerobert  werden. Erfolglos, wie es sich zeigte. «Mercedes» entpuppte sich vielmehr als schlechter Verlierer (was bezüglich Lewis Hamilton gar nicht gesagt werden kann), und erwägt allenfalls noch den Gang vor das Internationale Sport-Schiedsgericht (Tribunal Arbitral du Sport, TAS) in Lausanne. Auch eine solche, juristische Attacke würde das auf dem Sportplatz Versäumte nicht mehr ändern können. «Mercedes» arbeitet bekanntlich immer wieder daran, auch jetzt, das nicht allerbeste Image noch nachhaltig ein wenig mehr zu schädigen.

Sich auf den Schiedsrichter einzuschiessen ist im Motorsport noch weniger erfolgsversprechend als beispielsweise im Fussball. Oft geht es bei Zwistigkeiten in der Vollgas-Branche um das «Sportgerät Auto» und seine Reglements-Konformitäten, selten um den Rennverlauf. Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass das, was auf der Rennstrecke geschieht, letztlich auch die objektive Wahrheit bildet. Oder anders: Rennen werden mehrheitlich definitiv auf dem Sportplatz entschieden. Das wird auch in der «Causa Verstappen / Hamilton» nicht anders sein. Der Schiedsrichter am vergangenen Sonntagabend, Michael Masi, mag allenfalls im einen oder anderen Punkt diskutabel oder sogar umstritten entschieden haben; es waren jedoch Tatsachenentscheide, die er fällte, die nicht justiziabel sind. Das würde wohl sogar auch das TAS, eine bekanntermassen juristische Wundertüte, so sehen.

Letztlich kann niemand etwas dafür, dass sich «Mercedes», Fahrer und Motorsport-Chef, im Finale in Abu Dhabi einfach geistig und renn-sportlich zumindest etwas unbeweglich verhielten. Dafür kann der clevere, mit Renninstinkt versehene Max Verstappen allerdings reichlich wenig.