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Geschwindigkeitsrausch und Egoismus in der Todeszone (?)

causasportnews.com – 45/2025, 17. Mai 2025

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(causasportnews / red. / 17. Mai 2025) Wieder einmal geht es im Rahmen dieses Mediums um eine der drei Maximen des Sportes, um das «citius», was bekanntlich übersetzt «schneller» bedeutet (olympische Devise: «citius, altius, fortius» – «schneller, höher, stärker»). Heute muss allgemein alles schneller geschehen, nicht nur im Sport; aber auch. In dieser für den Alpinismus günstigen Frühjahrszeit liefern sich zwei Speed-Athleten einen eigenartigen Wettkampf, oder wie dieses Duell auch sonst bezeichnet werden könnte. Austragungsort ist der Mount Everest, mit 8’848 Metern über Meer die höchste Erhebung der Erde. Diesen Berg der Berge wollen der Schweiz-Ecuadorianer Karl Egloff und der Amerikaner Tyler Andrews unabhängig voneinander besteigen, und zwar, das ist das Herausragende, in einer Zeit von unter 20 Stunden. Dieses Geschwindigkeits-Duell am Dach der Welt, das vom Basislager (5’364 Meter) zum Everest-Gipfel führt, hat bereits begonnen. Der 45jährige Amerikaner scheiterte soeben beim ersten Versuch und wird es demnächst gleich wieder versuchen. Um das Ziel zu erreichen, ist eine Top-Vorbereitung notwendig. Physis und Psyche sind gefordert. Der Versuch ist wohl dann erfolgsversprechend, wenn eine gehörige Portion «Geschwindigkeitsrausch» dazu kommt. Wer steht also, gekleidet in Berg-Speed-Ausrüstung mit entsprechenden Laufschuhen, zuerst und nach weniger als 20 Stunden auf dem Gipfel? Die Prognosen sprechen eher für den knapp zehn Jahre jüngeren Amerikaner, der sich besonders intensiv vorbereitet hat und diesen Geschwindigkeitsrekord mit allen Mitteln anstrebt. Die bisherige, generelle Speed-Rekordmarke am Everest setzte 1988 der Franzose Marc Batard, der für die jetzt von Karl Egloff und Tyler Andrews für den Rekordversuch auserwählte Strecke über die nepalesische Südseite 22 Stunden und 29 Minuten benötigte. Eine Wettbewerbsbedingung mit Blick auf den Speed-Rekord verlangt übrigens, dass beim Abstieg vom höchsten Berg der Welt auch kein Flaschensauerstoff verwendet wird. Deshalb wurde der Versuch des Nepalesen Kazi Sherpa, der 2008 den Aufstieg in 20 Stunden und 24 Minuten bewältigt hatte, nicht gewertet. Dies war allerdings alles auch irrelevant, weil die Marke von 20 Stunden eh nicht unterboten wurde. Jetzt könnte also im Speed-Wettbewerb zwischen Karl Egloff und Tyler Andrews bald eine Entscheidung fallen und die Zeit-Limite von 20 Stunden geknackt werden. Schneller als 20 Stunden auf den Mount Everest! Dies ist zweifelsfrei eine exorbitante, sportliche Leistung, wenn es in diesem Wettbewerb einen Sieger geben soll. Selbstverständlich wird bei einem solchen Speed-Spektakel die Sinnfrage ausgeklammert. Entscheidend wird übrigens sein, welcher Berg-Läufer allenfalls ein besseres Zeitfenster für den Aufstieg nutzen kann. Daneben können andere Faktoren über Sieg und Niederlage am Berg in der Todeszone von Bedeutung sein. Beim gescheiterten Erstversuch am 17. Mai von Tyler Andrews, der sich als Leichtathlet am Berg versteht, haben ihn Probleme mit den Lauf-Schuhen zum vorzeitigen Abbruch des Rekord-Versuchs gezwungen. In den nächsten Tag wird Karl Egloff loslaufen.

Derzeit wird ein anderer Vorgang, der sich im Juli 2023 am K 2, dem zweithöchsten Berg der Erde (8’611) zugetragen hatte, diskutiert. Auf dem Weg zum Gipfel stürzte Muhammad Hassan, der mit einer Seilschaft unterwegs war, ab und blieb kopfüber in den Seilen hängen. Die Bergsteigerin Kristin Harila passierte die Stelle, und von da an gehen die Meinungen darüber auseinander, ob der verunglückte pakistanische Bergträger durch die Bergsteigerin aus Norwegen, welche auf Berg-Rekordjagd unterwegs war, etwas hätte tun können, um den abgestürzten und sterbenden Pakistaner zu retten. Sie entschied sich für das Weitergehen und für den anvisierten Rekord (in neuer Bestzeit alle Achttausender der Erde zu erklimmen). Hat sie egoistisch gehandelt oder lediglich den Gesetzmässigkeiten der Extrem-Bergsteigerei Rechnung getragen? Das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» sieht es so: «Kristin Harila hat der K 2 kein Glück gebracht. Über ihrem Rekord liegt ein Schatten. In der Bergsteigerwelt wird bis heute darüber debattiert, ob sie womöglich doch nicht alles getan hatte, um Muhammad Hassan zu retten.».

(Quellen: Tages-Anzeiger, Zürich, 15. Mai 2025; «Der Spiegel», Nr. 20, 10. Mai 2025)

Wanda Rutkiewicz: Verschollen in Eis und Schnee – oder zurückgezogen im Kloster?

causasportnews.com – 7/2025, 23. Januar 2025

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(causasportnews / red. / 23. Januar 2025) Wem sagt der Name Wanda Rutkiewicz etwas? Wohl nur den Insidern und Beobachtern des extremen Bergsports. So wie der Name Kangchendzönga. Dies ist der dritthöchste Berg der Erde. Über seinen Gipfel, auf 8’586 Metern, verläuft die Grenze zwischen Nepal und dem indischen Bundesstaat Kikkin. Nur die weit besser bekannten Mount Everest (8’848 Meter) und K2 (8’611 Meter) sind auch den Bergsport-Laien ein Begriff. Alle diese Berge stehen für Bergsteiger-Schicksale, Träume, Tragödien, Mysterien und Mythen, aber auch für Heldenhaftes und Triumphe des Menschen über die Natur. Eine der bewegendsten Geschichten im Bergsport wurde von einer Frau geschrieben, der Polin Wanda Rutkiewicz, welche geradezu unglaubliche, alpinistische Höchstleistungen erbrachte. Der am 4. Februar 1943 geborenen Alpinistin gelang die Besteigung von acht Achttausendern; sie bezwang auch die beiden höchsten Berge der Welt, den Mount Everest, an dem derzeit die Erde bebt, und den K2. Sie wollte mehr erreichen und lebte den Traum, den sie als «Karawane der Träume» betitelte, der sie auf die sechs weiteren Berggipfel über 8’000 Metern bringen sollte.

Als sie sich 1992 im Alter von 49 Jahren aufmachte, den Kangchendzönga, den höchsten Berg auf diesem Planeten nach dem Mount Everest und dem K2 zu besteigen, ahnte sie nicht, dass sie auf dem Weg zum Gipfel ihre letzte Ruhestätte finden würde. Nicht weit vom Ziel entfernt wurde sie vom Weggefährten, dem Mexikaner Carlos Corsolio, der auf dem Abstieg war, noch gesehen. Wanda Rutkiewicz wollte, gleichsam koste es was es wolle (einkalkuliert das Leben), hoch zum Gipfel. Die Bemühungen von Carlos Corsolio, seine Bergsteiger-Kollegin zu bewegen mit ihm abzusteigen, fruchteten nicht. Wanda Rutkiewicz wollte um jeden Preis auf den Gipfel. Dieser Preis war offensichtlich zu hoch. Carlos Corsolio war der letzte Mensch, der Wanda Rutkiewicz noch lebend sah. Es gilt als wahrscheinlich, dass die Polin am 13. Mai 1992 ihre Seele am Kangchendzönga aushauchte. Hier beginnen die Spekulationen, nämlich, dass die zielstrebige Bergsteigerin, zwar am Berg für immer verschwand, aber vielleicht in einem buddhistischen Frauenkloster eine irdische Bleibe gefunden habe. Mit dieser Spekulation wurde das Mysterium um die berühmteste Bergsteigerin der Welt befeuert; und bewegt die Menschen auf der Welt nach wie vor. Zumindest in den Erinnerungen, was sich aktuell so manifestiert:

In den Kinos läuft derzeit der Film «The Last Expedition» der polnischen Regisseurin Eliza Kubarska. Das Werk, das die Geschichte einer aussergewöhnlichen Frau nachzeichnet, die sich in einer Männerdomäne nicht nur durchsetzte, sondern ihrer Zeit in jeder Hinsicht voraus war, ist ein bewegendes Epos mit einem Ende, das breiten Raum für Mutmassungen belässt. Wohl nie wird die vordergründige Frage beantwortet werden können, ob Wanda Rutkiewicz in Eis und Schnee am Kangchendzöng in Nepal in die Ewigkeit hinüberdämmerte oder sich als zwischenzeitlich 81jährige Frau in einem Kloster dem Jenseits entgegenblickt. Die Ungewissheit des Seins verstärkt die Erinnerung an eine ausserordentliche Frau, die sich in der Todeszone des Alpinismus’ mirakulös bewegte.

Nahe beim Himmel: Weltliches und allzu Weltliches im Himalaya-Gebirge

causasportnews / Nr. 1149/06/2024, 9. Juni 2024

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(causasportnews / red. / 9. Juni 2024) Je höher ein Bergsteiger steigt, desto näher fühlt er sich beim Himmel. Das gilt natürlich vor allem für die 14 höchsten Berge der Welt über 8000 Meter, von denen sich zehn im Himalaya-Gebirge befinden, u.a. auch der höchste Berg auf dem Planeten, der Mount Everest mit 8848 Metern Höhe. Himalaya bedeutet übrigens «Schneewohnstätte», was allgemein nicht wörtlich zu verstehen ist. Im Moment zeigt sich am Mount Everest der Irrsinn des kommerziellen Höhenbergsteigens, das von Reinhold Messner als dekadenter, kommerzieller Bergsteiger-Tourismus bezeichnet wird. Diese Ausdauer-Disziplin sorgt aktuell für Unverständnis und schockiert allgemein. Chaos und Stau am Prestigeberg – so schlimm war es offenbar noch nie wie jetzt am Mount Everest und auch nicht an den anderen Achttausendern. Vor allem in Gipfelnähe herrscht am Mount Everest ein unsägliches und gefährliches Gedränge. Super-GAU und Super-Stau in der Todeszone (über 8000 Meter Höhe), in der sich Bergsteigerinnen und Bergsteiger nicht allzu lange aufhalten sollten. Im Bereich des Gipfels zum höchsten Berg der Welt bewegt sich an vielen Tagen eine Bergsteiger-Kolonne; es gibt nur eine Route hinauf und eine wieder hinunter. Diverse Alpinistinnen und Alpinisten sollen sich offenbar in dieser letzten Phase der Besteigung immer rücksichtsloser, rüpelhafter und egoistischer benehmen, immer mit dem Ziel vor Augen: Hoch zum Gipfel um jeden Preis. Dabei gehen die Bergsteigerinnen und Bergsteiger, welche teils gegen viel Geld den Gipfelsturm anstreben und auf Dritthilfe (vor allem durch Sherpas) angewiesen sind, auch über Leichen, ja, sie müssen teils über Leichen gehen oder diese übersteigen. Diese sind teils seit Jahren am Berg der Berge festgefroren. Der Kampf um die Besteigung der Achttausender wird immer schlimmer. Es ist ein Abbild der realen Welt; es geht am Mount Everest und auf den anderen Achttausendern zwischenzeitlich sehr weltlich zu und her, was an sich in diesen Höhnlagen, in denen die Alpinistinnen und Alpinisten doch schon recht nahe beim Himmel sind, eher verwundert. Aber die Behörden in den Ländern, in denen sich die Berge über 8000 Meter befinden, wollen nun für Ordnung sorgen und die Exzesse am Mount Everest und an den anderen, höchsten Bergen der Welt eindämmen. Dazu gehört auch, dass möglichst viele Leichen aus der Todeszone geholt werden sollen. Die vielen ungeborgenen Toten, die sich dort teils seit Jahren befinden, sind für den Bergsport nicht gerade image-fördernd; es sollen nun möglichst viele Leichen regelrecht von den Bergen geholt und entsorgt werden. Ein weiteres, ebenfalls weltliches Entsorgungs-Problem wird derzeit intensiv angegangen; es ist angedacht, die Müllhalden rund um die Achttausender zu räumen.

Als ob es in dieser Spitzen-Bergsportszene nicht schon genügend Problem zu lösen gäbe! Nun sind gegen den Himalaja-Superstar Nirmal Purja allzu weltliche Vorwürfe erhoben worden, welche zeigen, dass gewisse Vorkommnisse auch nahe am Himmel durchaus den alltäglichen Gegebenheiten ähneln. Die 35jährige Lotta Hintsa, eine ehemalige «Miss Finnland», welche seit Jahren begeistert in der Alpinismus-Szene aktiv ist, beschuldigt den nepalesischen Bergsteiger, er habe sie in einem Hotel in Kathmandu sexuell bedrängt, sie ausgezogen und sich dann vor ihr selbst befriedigt. Eine amerikanische Ärztin wirft dem 40jährigen Nirmal Purja vor, er habe sie anlässlich einer Expedition zum «K 2» in einem Camp gegen ihren Willen geküsst und sexuell bedrängt. – Der Nepalese bestreitet die Vorwürfe; für ihn gilt die Unschuldsvermutung.

Die Schlüsse aus diesen Vorkommnissen: Auch im Bereich der Todeszone sowie teils darunter ist die Luft in der Bergsport-Szene oft genau so dünn wie sonst überall auf der Welt. Auch wenn alles nahe am Himmel geschieht.

Die Umstände eines Bergtodes als Abbild der aktuellen Gesellschaft

causasportnews / Nr. 1046/8/2023, 12. August 2023

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(causasportnews / red. / 12. August 2023) Der Bergsport in seiner exzentrischsten Dimension, der vorwiegend in der «Todeszone», im Bereich von über 8000 Höhenmetern, stattfindet, ist in den letzten Jahren regelrecht entartet, oder wie es das Urgestein des Extrem-Alpinismus’, der Südtiroler Reinhold Messner, sieht: «Das ist nicht mehr Alpinismus, sondern Tourismus». Was die Welt in unseren Niederungen, nicht zuletzt dank der neuen Medien, mitbekommt, wenn es um die Besteigung vor allem der höchsten Berge der Welt geht, ist in der Tat eindrücklich und bedrückend zugleich: Die Rede ist von begüterten Menschen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, von Helfern auf die markantesten Gipfel der Welt schieben lassen, oder von Agenturen, welche «Kunden» jedwelcher Couleur meistens gegen viel Geld vor allem mit der Hilfe von Sherpas, die durchwegs schamlos ausgebeutet werden, die Erklimmung des Mount Everest (8848 Meter ü. M.), des Mount Godwin Austen (K2; 8610 Meter) oder des Kangchendzönga (8586 Meter) ermöglichen. Die Besteigung dieser und weiterer Gipfel in der «Todeszone» geht einher mit Dramen, Tragödien und Todesmärschen in Eis, Schnee sowie bei Winden und Stürmen. Der pervertierte Alpinismus, der also zum Tourismus verkommen ist, beschert den Daheimgeblieben auch immer wieder kaum für möglich gehaltene Bilder, etwa die berühmt gewordene «Stau»-Aufnahme unter dem Gipfel des Mount Everest (vgl. Titelbild von Causa Sport 3/2019 – causasportnews vom 28. Mai 2023).

Wenn Bilder sprechen, wird alles noch nachvollziehbarer. So verhält es sich aktuell mit dem Tod des pakistanischen Trägers Mohammed Hassan, bzw. mit den Umständen dieses Todes. Video-Aufnahmen zeigen den Mann, der auf dem Weg zum Gipfel des K2 stürzte und ums Leben kam. Dieses Faktum alleine könnte noch als Folge des am Berg eingegangenen Risikos qualifiziert werden; wer in der «Todeszone» unterwegs ist, hat auch das Sterben einzukalkulieren. Doch was sich an der Unfallstelle abspielte, war nicht nur dramatisch und entsetzlich, sondern geradezu surreal. Bergsteiger passierten die Unfallstelle des noch lebenden Pakistaners (dieser stürzte ein paar Meter ab und wurde dann von seiner Seilschaft wieder in die Spur gezogen), überstiegen ihn, den zum Hindernis gewordenen Sterbenden, gleichsam, um raschmöglichst auf den Gipfel des K2 zu gelangen. Um den Sterbenden kümmerte sich keiner. Der Träger im Todeskampf war einzig ein Hindernis für die Berggänger, welche in diesem Moment über eine Fast-Leiche gingen, um ihre persönlichen Ziele zu erreichen und die Besteigung des K2 frenetisch – unempathisch – bejubelten. Im Nachhinein hat sich nun eine Diskussion entwickelt, ob der qualvoll Verstorbene hätte gerettet werden können – nicht, ob er hätte gerettet werden müssen. Ethik am Berg ist etwa so skurril wie der Einsatz von Weihwasser gegen alles Teuflische. Jetzt wird das Thema, wie üblich in der heutigen Zeit, auf eine juristische Ebene verlagert: Die pakistanischen Behörden haben Untersuchungen aufgenommen. In den Medien wird hauptsächlich diskutiert, ob es – theoretisch – drei, vier oder sechs Leute gebraucht hätte, um den regelrecht krepierenden Mohammed Hassan zu retten.

Der Bergsport, der eben nach Meinung von Reinhold Messner zum Bergtourismus mutierte, ist wohl, wie dieser aktuelle Fall belegt, ein Abbild, wie die heutige Gesellschaft funktioniert. Zwar wird Betroffenheit markiert, die Welt findet ein solches Vorkommnis erschütternd, schockierend, dramatisch und empörend, aber auf einen Nenner gebracht ist dieses Fazit zu ziehen: Eigeninteressen und Egoismus überlagern alle übrigen Untugenden und Werte. So gesehen sind die Umstände des Todes des pakistanischen Trägers, der inmitten von Bergsteigern auf rund 8300 Metern über Meer am K2, rund 300 Meter unterhalb des Gipfels starb, und auch Opfer des egoistischen Verhaltens der Mit-Bergsteiger wurde, nichts Aussergewöhnliches. Wie die Reaktionen der Betroffenheits- und Empörungsgesellschaft zeigen.

War Reinhold Messer 14 mal ganz oben oder nicht?

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(causasportnews / red. / 29. Juli 2022) Fast immer wieder in der «Sauregurkenzeit» eilt den Medien der bald 70jährig Deutsche Eberhard Jurgalski zu Hilfe und hält der journalistischen Sommer-Ebbe entgegen, so wie letztes Jahr um etwa die gleiche Zeit (vgl. causasportnews vom 6. Juni 2021). Der, gemäss Eigenwerbung, führende Chronist zu den 8000ern, wiederholt heuer seine These, dass nicht die in den gängigen Chroniken geführten 44 Bergsteigerinnen und Bergsteiger alle 14 Berge der Welt über 8000 Meter erklommen hätten, sondern lediglich deren drei. Zu diesen Bergsteigern mit dem Erklimmungsmakel gehört auch der berühmteste Bergsteiger der Moderne, der heute 77jährige Südtiroler Reinhold Messner. Die Geschichte ist eigentlich längst abgekocht, aber eben, die «Sauregurkenzeit» macht’s möglich, dass Legenden zumindest in Frage gestellt, wenn nicht sogar zerstört werden. Denn mit der Besteigung der Top-Höhen dieser Welt ist es so eine Sache: Der Mount Everest (8849 m) ist nicht etwa mit dem Matterhorn (4478 m), mit der der Zugspitze (2962 m) oder mit dem Grossglockner (3798) gleichzusetzen; sowohl auf dem Matterhorn (ist nicht der höchste Berg der Schweiz) als auch auf der Zugspitze oder dem Grossglockner sind die höchsten Gipfel-Punkte vor Ort peinlichst genau markiert, gleichsam amtlich vermessen. Wer einen solchen Punkt auf Europas Bergen erreicht hat, wird ob der erzielten Leistung nicht mehr in Frage gestellt. Bei den 8000ern ist das alles nicht so einfach, denn selbstverständlich gibt es in der Regel ganz oben keine Markierung, welche den höchsten Punkt des Berges unverrückbar festhält. So kann es durchaus sein, dass sich ein Bergsteiger oder eine Bergsteigerin auf dem höchsten Punkt des Berges wähnt, jedoch sich effektiv auf einem leicht tiefer gelegenen Vorgipfel oder einem unebenen Grat befindet, allenfalls nur ein paar Meter unterhalb des Gipfels. Das von Eberhard Jurgalski längst ausgewertete Material führt zum Schluss, dass Reinhold Messner, der als erster Mensch auf allen 8000ern dieser Welt gestanden haben soll, sich effektiv «nur» auf 13 Gipfeln und somit nicht als erster Mensch auf allen 14 Gipfeln zuoberst befand. An der Annapurna (8091 m) habe er einige Meter vor dem Gipfel gestoppt, wird ihm entgegengehalten. Kann sein. Die Frage ist allerdings, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein 8000er als bestiegen gilt. Machen ein paar Meter Differenz zum effektiv höchsten Punkt eine Gipfelbesteigung also ungültig? Diese Frage wird derzeit in verschiedenen Medien ausführlich diskutiert, so etwa in der im linken Spektrum anzusiedelnden Zürcher Zeitung «Tages – Anzeiger» mit ihrer kontinuierlichen Neid-Berichterstattung. «Grössen wie Reinhold Messner waren gar nie auf allen 8000er-Gipfeln» titelt das Blatt kürzlich (21. Juli 2022) einigermassen genüsslich – und kramte die «olle Kamellen-Geschichte» von Eberhard Jurgalski hervor. Neben dem Südtiroler sollen von 44 Bergsteigern und Bergsteigerinnen 41 effektiv gar nicht, wie in den Chroniken geführt, auf allen Gipfeln über 8000 Metern gestanden haben; durchwegs aus Gründen, die damit zusammenhängen, dass die höchsten Punkte dieser Gipfel nicht einfach zu lokalisieren sind. Die «Sauregurkenzeit» bietet natürlich die ideale Gelegenheit, um ein mediales Pingpong zu starten. Entsprechend fiel die Antwort von Reinhold Messner (selbstverständlich ebenfalls) im «Tages-Anzeiger» vom 25. Juli 2022 aus: «Ich für meinen Teil war oben – und das nimmt mir niemand», erklärt sich der Top-Alpinist auf einer ganzen Zeitungsseite. Lehre aus der aufgewärmten Geschichte: In der Todeszone über 7000 Metern funktioniert Statistik wohl anders als auf dem Matterhorn, auf der Zugspitze oder auf dem Grossglockner…