Ein Kuss bestätigt die «Schmetterlingstheorie»

causasportnews / Nr. 1057/09/2023, 11. September 2023

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(causasportnews / red. / 11. September 2023) Kann ein Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado auslösen? Ja, so ist es, wenn man der berühmten «Schmetterlingstheorie» Glauben schenken will. Kann aber auch ein Kuss einen Glaubenskrieg entfesseln oder gängige Moralvorstellungen und Weltanschauungen in einem bedeutenden Fussball-Land zumindest ins Wanken bringen? Oder eine Nation sogar spalten? – Auch das ist wohl nach dieser Theorie möglich.

Er wird wohl zum «Kuss des Jahres», den der Präsident des Spanischen Fussballverbandes (RFEF) «seiner» siegreichen Spielern Jennifer Hermoso am 20. August 2023 nach dem Finalsieg der Spanierinnen zumindest ungestüm appliziert hat. Auf den Mund, ohne jegliches Einverständnis seitens der Spielerin und ohne jeglichen Rechtfertigungsgrund. Seither ist nicht nur die globale Fussballwelt aufgewühlt. Es ist klar, dass so etwas nicht geht. Doch ist, bzw. war der Vorgang dazu angetan, Luis Rubiales abzuschiessen? Es haben sich zwischenzeitlich zwei Lager formiert: Die Gegner der Aktion des Verbandspräsidenten, die seinen Kopf fordern; und die Verfechter der Verhältnismässigkeit, welche sich im für den Präsidenten schlechtesten Fall für eine angemessene, sprich milde Sanktionierung für die «Kuss-Attacke» stark mach(t)en. Praktisch die ganze Weltöffentlichkeit fühlt sich seit dem Spanierinnen-Sieg in Australien berufen, sich hier einzubringen. Der Welt-Fussballverband FIFA hat den 46jährigen Spanier auf Druck schon einmal von der Ausübung seiner Funktionärs-Aktivitäten suspendiert. Offenbar nicht ganz freiwillig hat die beküsste Spielerin kürzlich den in ihren Augen übergriffigen Funktionär angezeigt und damit die strafrechtliche Ebene beschritten. Video-Bilder zeigen allerdings, dass sich Jennifer Hermoso nach dem emotionalen Ausbruch von Luis Rubiales nach dem Finalspiel in Sydney nicht wahnsinnig über den präsidialen Kuss echauffiert hatte. Die zuständige oder nicht zuständige Staatsanwaltschaft in Spanien («Tatort» war Australien) ermittelt nun wegen des möglichen, teils behaupteten sexuellen Übergriffs. Die Kernfrage wird sein: War der Kuss sexuell und/oder macho-mässig und/oder rein emotional motiviert? Nun hat sich die Situation im Hauptpunkt geklärt. Verbandspräsident Luis Rubiales ist per sofort zurückgetreten, auch als Vize-Präsident des Kontinentalverbandes UEFA. Der Druck auf ihn, der sich auch starrsinnig und uneinsichtig zeigte, wurde zu gross. Die «Kuss-Attacke» von Sydney, die sich zum Tornado entwickelte, hat sich «Schmetterling-theoretisch» bestätigt.

Die «Causa Rubiales (Täter) / Hermoso (Opfer)» hatte die individuell-konkrete Sphäre des Geschehens längst verlassen. Der Vorgang wies immer mehr generell-abstrakte Züge auf. Je länger die Affäre andauerte, desto vordergründiger stand die Frage im Raum, ob Spanien grundsätzlich ein Macho-Land sei. Zudem, ob in der Fussball-Welt, in dem sich z.B. Funktionäre (vor allem gegenüber Frauen) offenbar alles (oder einiges) erlauben dürfen, die Machokultur gesellschaftlich prävaliert. Wie verhält es sich zudem mit dem Status der (vermeintlich?) emanzipierten, spanischen Gesellschaft? Die Grundsatzfrage, die auch nach dem Rücktritt des Verbandspräsidenten weiterhin im Raum stehen wird, lautet schlicht: Wie weit dürfen Spaniens Machos gehen? In dem erfolgsverwöhnten Fussball-Land werden die Verhaltens-Massstäbe in derartigen Dingen wohl immer noch etwas salopper angelegt als anderswo. Der «Fall Luis Rubiales» ist zwar nun in einer ersten Phase abgeschlossen. Der entfesselte Tornado hat dem Präsidenten keine andere Wahl mehr gelassen, als zurückzutreten. Von Tornados ereilt werden nicht immer die «Richtigen»; sie sind immer «ungerecht». Es wird sich weisen, ob es in dieser Angelegenheit zu einer strafrechtlichen Verurteilung kommen wird. Falls nicht, wird die Diskussion wohl endlos weitergeführt werden (müssen). Der Umstand, dass sich der Verbandspräsident anlässlich des Finalspiels in Sydney auch noch in den Schritt gegriffen hatte, dürfte bei der Beurteilung des Verschuldens, der Vorwerfbarkeit, nicht allzu schwer wiegen; so etwas (mit zusätzlicher «Geruchskontrolle») hatte der damalige Deutsche Bundestrainer Joachim Löw 2016 schliesslich auch unbeschadet überstanden (wenn auch die Intuitionen der beiden Funktionäre bei ihren Aktionen offensichtlich nicht dieselben waren).